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Ein Jahr anonyme Hinweise: Radio Hochstift greift brisante Themen seiner Hörer auf

Missstände in Unternehmen, Mobbing, besondere Gerichtsprozesse, Ärger mit Behörden - die Spannbreite der Themen ist riesig. Seit einem Jahr ruft die Redaktion von Radio Hochstift ihre Hörer dazu auf, ihr anonyme Hinweise auf relevante Themen aus dem Sendegebiet, den Kreisen Paderborn und Höxter zu geben. Zeit für ein Zwischenfazit.

Kleiner Aufwand, enorme Wirkung. Denn für die Hörer ist es rein technisch nur ein sehr geringer Aufwand: ein paar Zeilen, ein Klick und der anonyme Hinweis erreicht die Redaktion von Radio Hochstift direkt. Für viele ist es aber ein großer und schwerer Schritt, ein Problem aus ihrem Umfeld oder eigenen Erleben anzusprechen und öffentlich zu machen. Nicht selten sind Abhängigkeiten der Grund oder soziale Gefüge, die davor zurückschrecken lassen, auszusprechen, was eigentlich auszusprechen ist.

Viele haben die Fälle von Whistleblower Edward Snowden oder dem Apotheker aus Bottrop, der seinen Arbeitgeber wegen groß angelegten Betrugs anzeigte, im Kopf. Geschichten, in denen die Offenlegung brisanter - und wichtiger - Informationen schwere Konsequenzen nach sich zog. Hier bietet die Anonymität der Hinweise eine ideale Möglichkeit, nicht mit seiner gesamten Identität und vollem Namen einen Missstand offenzulegen.

Der Erfinder und Betreuer der anonymen Hinweise auf Radio Hochstift: Redakteur Tobias Fenneker.

Erfinder und Betreuer der anonymen Hinweise bei Radio Hochstift ist Tobias Fenneker. Er erinnert sich: "Mitte Juni 2017, also genau vor einem Jahr, haben wir das Formular auf unsere Homepage gestellt. Außerdem haben wir Trailer im Programm laufen lassen, die dazu aufriefen, uns anonyme Hinweise zu geben. Seitdem sind genau 117 eingegangen." Eine Bilanz, mit der auch Chefredakteur Martin Lausen sehr zufrieden ist: "Das zeigt uns einmal mehr die große Hörernähe von Radio Hochstift - und die außerordentlich hohe Identifikation mit uns. Wer ein Problem hat, wendet sich in den Kreisen Paderborn und Höxter an sein Lokalradio Nr. 1."

"Recherchieren gern auch für den Einzelnen"

Die Hinweise seien inhaltlich sehr unterschiedlich, berichtet Tobias Fenneker, zeigen jedoch einen deutlichen Schwerpunkt: "In den allermeisten Mails weisen (Ex-)Mitarbeiter auf Missstände in ihren Unternehmen hin. Das sind Geschichten von nicht gezahlten Löhnen, unbezahlten Überstunden Mobbing, sogar bis zu Straftaten, zu denen Mitarbeiter angestiftet werden." Es gab allerdings auch schon einzelne Hinweise zu ganz anderen Themen: "Zum Beispiel meldete sich bei uns eine eine Frau, die auf einen bestimmten Gerichtsprozess hinwies, von dem sonst wohl niemand erfahren hätte." Auch der Ärger mit Behörden sorgt immer wieder für anonyme Hinweise. ​

Was folgt, sind zunächst eine Sichtung und erste Recherche der Hinweise. Fenneker: "Das Thema muss eine gewisse Tragweite haben. Der Streit am Gartenzaun ist nichts für uns. Es ist allerdings in keiner Weise Pflicht, dass es sich um ein großes Unternehmen oder ähnliches handelt. Wir recherchieren gerne auch für den Einzelnen, wenn es aus unserer Sicht von Belang ist."

Sensible Bearbeitung durch erfahrene Redakteure

Eine sensible Bearbeitung mit größtmöglichem Schutz des Informanten ist für das Team von Radio Hochstift extrem wichtig. Die Recherchen werden in der Regel nur von erfahrenen Redakteuren durchgeführt, weil sie meist auch unangenehme Telefonate und Gespräche zur Folge haben. Redakteur Tobias Fenneker beschreibt das Vorgehen: "Zunächst muss geklärt werden, wie viele Informationen uns bereits vorliegen, entweder durch den anonymen Hinweis oder durch andere Recherchen. Im Anschluss sprechen wir, falls der Hinweisgeber seine Kontaktdaten angegeben hat, noch einmal mit ihm. Anschließend stehen wir oft in Kontakt mit Gewerkschaften, mit der Polizei, auch häufig mit der Staatsanwaltschaft." Über unzählige Kanäle versuchen die Redakteure außerdem, weitere Infos zu dem beschuldigten Unternehmen zu erhalten bzw. (Ex-)Mitarbeiter zu finden, die bereit sind, zusätzliche Informationen zu geben.

Das erfordert nicht nur eine Menge Fingerspitzengefühl, sondern ist auch sehr zeitaufwändig: "Die Recherchen ziehen sich manchmal über Monate, weil wir die anonymen Hinweise selbstverständlich parallel zu unseren Alltagsaufgaben erledigen. Neben normalen Mails wurden uns schon WhatsApp-Protokolle, Fotos oder heimlich aufgenommene Tonaufnahmen zugespielt. Das alles zu sichten, zu sortieren und aufzuarbeiten, kostet viel Zeit."

Investigativer Journalismus: Tränen der Dankbarkeit, aber auch Gegenwind

Der Schutz der Informanten steht im Vordergrund.

Die hohe Zahl an anonymen Hinweisen bei Radio Hochstift zeigt: Trotz der Möglichkeit, die Redaktion über Mail, Telefon, Facebook, Instagram, Twitter etc. zu kontaktieren, gibt es Themen, die viele Hörer lieber anonym mitteilen. Fenneker: "Die Hinweisgeber haben oft Angst und wollen auf keinen Fall, dass ihr Name in der Berichterstattung auftaucht - genau das sichern wir ihnen direkt zu Beginn zu. Die anonymen Hinweise bieten eine Art 'geschützten Raum'".

Aus Sicht der Redaktion und Chefredakteur Martin Lausen ist das Projekt ein Riesen-Erfolg. Mittlerweile sind schon rund 30 Geschichten aus den anonymen Hinweisen entstanden. Lausen: "Das funktioniert nur durch das riesige Engagement einiger Mitarbeiter von Radio Hochstift. Unsere Berichterstattung über nicht-gezahlte Löhne in einem Paderborner Reinigungsunternehmen sorgte dafür, dass sich dutzende Betroffene aus mehreren Bundesländern bei uns meldeten. Der Chef der Firma trat von seinen politischen Ämtern zurück." Und Kollege Fenneker erinnert sich an eine andere brisante Geschichte, die die anonymen Hinweise auf Radio Hochstift ans Licht brachten: "Unsere permanente Berichterstattung über den sogenannten Abschiebeknast in Büren-Stöckerbusch sorgte für staatsanwaltliche Ermittlungen und Diskussionen im NRW-Landtag." Dass dieser investigative Journalismus, den viele in anderen Medien heute zunehmend vermissen, nicht allen gefällt und aneckt, versteht sich von selbst: "Mehrfach wurde uns schon mit juristischen Konsequenzen o.ä. gedroht. Wir haben uns mit Hinweisgebern persönlich getroffen, die sogar Angst hatten, uns Infos am Telefon zu geben.", schildert Erfinder und Betreuer Tobias Fenneker.

Dem Gegenwind auszuweichen, ist für Radio Hochstift keine Option. Nicht zuletzt, weil die Hörer es den Redakteuren ganz persönlich danken, sich für sie engagiert zu haben. Tobias Fenneker: "Manche Hinweisgeber brachen im Nachgang (aus Dankbarkeit!) in Tränen aus, als sie gehört haben, dass wir die Geschichte tatsächlich umgesetzt haben."

ams, 12.06.2018